Auf Twitter schreibt Ulf Porschardt angesichts der vielen Forderungen nach Evakuierung der (potenziellen) Flüchtlinge und Asylbewer aus dem abgebrannten Lager von Moria:
Twitter ist ein endloser evangelischer Kirchentag geworden
— Ulf Poschardt (@ulfposh) September 12, 2020
Ich finde, er spricht damit etwas Wichtiges an, was für mich als Mitglieder der evangelischen Kirche zunehmend unverständlich ist, nämlich diese sendungsbewusste Haltung, die evangelische Kirche müsse — auch wenn wir alle wissen, dass sie dazu gar nicht die Ressourcen hat — zumindest symbolisch versuchen, möglichst viele Menschen aus ärmeren Ländern zu retten und in die EU zu holen. Dabei sind gerade die Menschen, die es schaffen, bis an die Grenze der EU zu kommen, meist gar nicht die Ärmsten und Schwächsten. Die bleiben vielmehr in ihren Ländern, und leiden und sterben, ohne dass die Öffentlichkeit oder die EKD dafür sonderlich interessieren würden, abgesehen davon natürlich, dass die „standardmäßigen“ Hilfsprogramme der Diakonie etc. natürlich weiterlaufen.
Eine Sonderbehandlung, ein Extra an Fürsorge bekommt man aber anscheinend nur, wenn man medienwirksam an den Toren der EU rüttelt. Und das finde ich falsch.
Es ergibt keinen Sinn, den hohen Wert der Nächstenliebe als christlicher Wert (nur bzw. gerade) genau dann zu entdecken, wenn das Licht der Öffentlichkeit auf einem Problem ruht. Warum investiert die EKD nicht in Impfungen in Afrika oder Südostasien, um dort das Leid zu lindern? Warum bevorzugt sie, mit höherem finanziellen Aufwand Glücksritter aus Seenot zu retten, die mit ihrer Aktion noch dazu die EU in Probleme bringen? Obwohl sie, zum Beispiel als syrische Flüchtlinge, auch in der Türkei und Israel um Anerkennung als Flüchtling nachsuchen könnten?
Jesus, der heilige Martin, der gute Samariter — sie handeln alle in ihrem unmittelbaren Umfeld und praktizieren tatsächlich „Nächsten-Liebe“. Christentum, glaube ich, muss, wenn es weiter existieren will, wieder vermehrt eine Graswurzelbewegung sein, mit einem Anspruch auch und vor allem lokal zu wirken. Frei nach dem Motto der Antifa würde ich sagen, Christentum ist Handarbeit, und Nächstenliebe, die sich abstrakt in die Ferne richtet und nicht spontan praktiziert wird, sondern PR-wirksam dort stattfinden soll, wo das Schlaglicht der Medienöffentlichkeit gerade ruht, ist gar keine Nächstenliebe, sondern moralische Machtprojektion mit dem Ziel der Selbsterhöhung.
Zahlende, möglicherweise weniger frömmelnde, pragmatisch und auch ein stückweit egoistisch denkende (sprich: fehlbare, sündhafte, etc.) Mitglieder wie ich sind dem Vorstand der EKD wahrscheinlich weniger wichtig als ihr Image und ihr Selbstbild. Ich behaupte: Die EKD-Führung will sich vor allem selbst ein Denkmal bauen; um die Menschen, die sie da retten will am Rande der EU, geht es gar nicht, sonst müsste man durch zweckutilitaristische Überlegungen dazu kommen, dass Hilfe an anderer Stelle viel effizienter möglich wäre.
Warum mischt sich die EKD überhaupt in weltliche Belange der Migrationspolitik ein, und warum hat mich in meinen über 40 Jahren Kirchenmitgliedschaft nie der zuständige Pfarrer quasi initiativ besucht und gefragt, wie es mir geht oder was ich denke was die Gemeinde tun könnte oder sollte?
Die Statistik spricht für sich: Immer mehr Kirchenmitglieder können mit der EKD nichts anfangen, sehen keinen Gegenwert für ihre Kirchensteuer, wenden sich ab. Und ich denke es hat damit zu tun, dass „die da oben“ in der Kirche eher PR-Nächstenliebe auf Distanz zu praktizieren als zu versuchen, tatsächliche Nächsten-Liebe vor Ort zu organisieren.