Für die Möglichkeit, egoistisch und „böse“ zu entscheiden

Ein Großteil der Politikverdrossenheit in Deutschland geht meiner Meinung nach darauf zurück, dass über scheinbar „alternativlose“ Entscheidungen gar nicht mehr debattiert wird. Dabei lebt Demokratie meiner Meinung nach davon, Dinge auszudiskutieren. Bei der Euro-Einführung hatte man zuviel Angst, die Menschen könnten sich gegen den Euro entscheiden, als dass man eine Volksbefragung darüber zugelassen hätte. Bei der Griechenland-Krise hat niemand in Betracht gezogen, Griechenland einfach pleite gehen zu lassen. Bei der Flüchtlingskrise hat man über die Option, die Grenzen dicht zu machen und Flüchtlinge einfach nicht ins Land zu lassen nicht ernsthaft nachgedacht. Und auch in der Corona-Krise galt es erst als undenkbar, Einreisen zu begrenzen. Es gibt anscheinend gesellschaftliche Dogmen, welches Verhalten gut und richtig ist, die dazu führen, dass bestimmte Optionen nicht einmal mehr debattiert werden.
Und ich glaube, das ist ein großer Fehler, denn so nimmt man den Menschen quasi die Möglichkeit aus den richtigen Gründen das Richtige zu tun, und fördert das Ressentiment, dass irgendwelche Menschen „da oben“ über aller anderen Köpfe hinweg Dinge bestimmen und Gegenmeinungen diskreditieren, indem die gewählte Option als alternativlos verkauft wird.
Ich denke bei einer Volksabstimmung hätte es keine Mehrheit dafür gegeben, Griechenland pleite gehen zu lassen. Und bezüglich der Asyl-
und Migrationssituation müssen wir uns ehrlich machen: Faktisch lässt die EU Staaten wie Libyen, die Türkei und Marokko eher weniger legale „Pull-Backs“ durchführen (d.h. diese Staaten werden dafür bezahlt, dass sie Flüchtlinge, die in die EU wollen, an der Flucht hindern, oder auf dem Weg wieder einfangen), um selbst keine oder weniger illegale „Push-Backs“ durchführen zu müssen. In seiner Exklave Ceuta führt Spanien Blitzabschiebungen durch, die wohl kaum mit einem geordneten Asylverfahren in Einklang zu bringen sind.
Anscheinend sind die Ansprüche der EU an sich selbst bezüglich ihrer Menschenrechtsstandards so unrealistisch hoch, dass man sie im Alltag nicht mehr wirklich erfüllen kann und will, nicht mehr wirklich „lebt“. Wo aber Anspruch bzw. Gesetzeslage und Wirklichkeit bzw. Praxis so auseinandergehen, wo kodifizierte Regeln nicht mehr gelebt, sondern umgangen werden, da ist es an der Zeit, die Regeln zu überdenken und ehrlich zu bekennen, was man zu tun bereit ist und was nicht. Wenn Europa faktisch eine Festung Europa sein will, wo nur Bürgern aus Anrainerstaaten Asyl bzw. Flüchtlingsstatus gewährt wird, dann soll sie das auch so festschreiben. Alles andere schwächt nur die Glaubwürdigkeit der EU als rechtsstaatliche Gemeinschaft.
Es bringt nichts, Tugendhaftigkeit und gutes Handeln vorzuspielen bzw. als alternativlos zu erklären. Man muss auch weniger edle Optionen diskutieren und, wenn man höhrere moralische Standards nicht wirklich zu erfüllen bereit ist, wählen.