Mit ist aufgefallen, dass sich in Deutschland die politischen Lager nicht einmal mehr einigen können, ob es in den letzten Jahren einen Rechts- oder Linksruck gab.
Dabei klingt das jetzt wirklich nicht nach einer Frage, die übermäßig kontrovers oder in ihrer Beantwortung intellektuell überfordernd sein sollte.
Was spricht für einen Rechtsruck?
Nun, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kann man auf wirtschaftlichem Gebiet einen Siegeszug der Marktwirtschaft nicht leugnen. Russland, China, die alten kommunistischen Länder sind jetzt kapitalistisch geworden, wenn auch nicht demokratisch. Das wirtschaftsliberale Denken hat sich durchgesetzt, Linke sprechen von einem Siegeszug des Neoliberalismus und des Egoismus.
Auch die neuen Medien, die zahlreiche große und kleine Instagramm- und Youtube-Sterne aufsteigen und verglühen lassen, fördern zumindest scheinbar die Ich-Ich-Ich-Gesellschaft.
Wo jeder sich selbst der Nächste ist und eine Zusatzrentenversicherung braucht, weil er sonst im Alter nur noch in Armut vor sich hin vegetieren kann, scheint gesellschaftliche Solidarität abgemeldet zu sein. Und es gibt jetzt die AfD. Braucht es noch mehr Beweise für einen Rechtsruck?
Was spricht für einen Linksruck?
Nun, wenn man Aussagen von Helmut Schmidt aus den 1980ern betrachtet, der bestimmte Zuwanderergruppe für inkompatibel mit der deutschen Gesellschaft erklärt, dann scheint die SPD der 1980er so rechts gewesen zu sein wie heute die AfD. Forderung, die vor 40 Jahren nur radikale Feministinnen gestellt haben, sind heute im Mainstream angekommen. Zahlreiche zentrale politische Fragen, wie zur Atomkraft, zur Zuwanderung, zum Euro, sind dem Anschein nach im Interesse der linken Gesellschaftshälfte gelöst oder zumindest entschieden worden. Statt wie früher eine linke Partei (SPD) gibt es heute drei linke Parteien (Linke, Grüne, SPD) ((wobei die Linkspartei als Abspaltung der SPD gesehen werden kann, als Konsequenz des „Rechtsrucks“ der SPD unter Schröder (nach der SPD-Fundamentalopposition gegen alle Reformen unter Lafontaine) )). Und von Union und FDP haben sich quasi die rechten Flügel abgespalten und die AfD gegründet, weil die Union ihnen unter Merkel zu weit in Richtung SPD gerückt war. Ist das nicht Beweis genug für einen Linksrück großer Teile des politischen Spektrums?
Nun, man könnte auch behaupten, dass Rot-Grün mit Schröder, der Agenda 2010, Hartz IV, Praxisgebühr und der Teilnahme am Balkan-Krieg eine Art „Rechtsruck von Links“ betrieben hätte, oder man könnte behaupten, dass Angela Merkel mit dem Atomausstieg-Austieg-Ausstieg und ihrer permissiven Migrationspolitik einen „Linksruck von Rechts“ hingelegt hätte.
Tatsächlich muss man wohl sagen, dass die eindimensionale Rechts-Links-Achse die Verschiebungen in den verschiedenen Politikfeldern nicht abbilden kann. Wirtschafts- oder sozialpolitisch mögen wir einen Rechtsruck haben, an anderen Stellen haben sich aber tendenziell linke Positionen durchgesetzt. Wenn es mehr Genderlehrstühle gibt, aber auch mehr Geld für die Bundeswehr, dann sind das Dinge, die man im einzelnen eher links oder rechts finden kann, es sagt aber über die Gesellschaft an sich wenig aus. Zumal ich glaube, dass die Verhältnisse der politischen Einstellungen der Menschen sich im Schnitt in der Masse nicht wirklich ändern.
Von daher würde ich konstatieren: Alles verändert sich. Und wer (nur) einen Links- oder Rechtsruck erkennen will, der sieht womöglich einfach nur (nur), was er sehen will.