„Festung Europa“

Der EuGH hat beschlossen, dass EU-Länder keine Visa gewähren müssen, damit Menschen nach Europa kommen können, um Asyl zu beantragen.
Ungarn interniert Flüchtlinge in Lagern, bis über ihren Antrag entschieden ist. Und die EU denkt darüber nach, Asyl-Zentren in Afrika einzurichten, damit abgelehnte Asylbewerber nicht noch abgeschoben zu werden brauchen.

Das klingt alles nicht sehr nett. Nach der sogenannten „Gesinnungsethik“ würden wir selbst nicht so behandelt werden wollen. Wir würden natürlich auch lieber nach Europa gebracht und versorgt werden wollen. Aber diese Was-Du-Nicht-Willst-Was-Man-Dir-tu-Logik lässt sich nicht durchhalten in einer Welt, wo ungefähr eine Milliarde Menschen hungern und gerne nach Europa kommen würden.

Und es gibt auch noch die Verantwortungsethik, die nicht die Intention und Gesinnung beurteilt, die zu einer Handlung führt, sondern das Ergebnis der Handlung zum Maßstab für die Richtigkeit macht.

Gewährte Europa zum Beispiel allen Menschen, denen es auf dieser Welt schlecht geht, Asyl, dann würde es möglicherweise zusammenbrechen und könnte niemandem mehr helfen. Es ist also verantwortungsethisch geboten, Europa nicht derart zu überlasten. Eine Abschottung, um so eine Überlastung zu verhindern, wäre dann zwar gesinnungsethisch weiterhin böse, aber verantwortungsethisch richtig, denn ein politisch und wirtschaftlich intaktes Europa ist möglicherweise für die armen Länder dieser Welt immer noch ein besserer Partner als die vermeintlich turbokapitalistischen USA oder das möglicherweise auch eher in wenig philantrophischer Absicht handelnde China. Möglicherweise ist aber auch China aus verantwortungsethischer Perspektive ein besserer Partner; dann nämlich, wenn die egoistischen chinesischen Investitionen in Afrika dort mehr Struktur und Wohlstand schaffen als die wohlmeinenden Programme, mit denen Europa Afrika seit Jahrzehnten eher erfolglos „hilft“.

Was soll Europa also tun? Welche Ethik sollen wir als Maßstab für unser Handeln nutzen?

Mit dem finanziellen Aufwand, den ein Asylbewerber im Jahr in Europa verursacht, könnte man in vielen Ländern dutzenden oder hunderten Menschen helfen. Wenn man also das Ziel hätte, das Leid in der Welt zu verringern, dann könnte man utilitaristisch gegen die Aufnahme von Asylbewerbern argumentieren und für andere Hilfsprogramme, durch die mit den gleichen Mitteln mehr Menschen geholfen werden kann. Man hätte die ganze Welt mehrmals gegen Malaria impfen können mit dem Geld, dass allein Deutschland in der Flüchltingskrise ausgegeben hat. Ist es dennoch richtig, dass wir lieber denen helfen, die stark und reich genug sind, sich nach Europa durchzuschlagen?

Tatsächlich gibt es in unserer Welt, in der es Hunger und Krieg und Leid und Tod gibt, meiner Meinung nach keine ethisch einwandfreie Handlungsweise, weil wir nicht allen helfen können, was Ethik und Moral aber gebieten würden. Die Entscheidung, was sich für uns (unter Anwendung welcher Ethik) „am Besten anfühlt“, ist also selbst ein ethisches Dilemma ohne Ausweg.
Fast immer wenn Politiker sich mit ethisch-moralischen Argumenten streiten, wer von Ihnen der bessere Mensch sei oder das größere menschenfeindliche Arschloch, wird gesinnungsethisch argumentiert, und die möglichen (verantwortungsethisch wichtigen) Konsequenzen des Handelns, die in der Zukunft liegen, werden ausgeblendet. Doch leider gilt allzu oft:„Gut“ ist das Gegenteil von „gut gemeint“. (Tucholsky)

Ein offenes Europa ist zwar gesinnungsethisch einzig richtig, aber pragmatisch kaum länger durchzuhalten. Es schien zu funktionieren, solange kaum jemand wirklich kommen wollte, aber erreicht nun seine Grenzen, da tatsächlich Menschen kommen.
Die Alternative dazu, eine „Festung Europa“, die ihre Grenzen kontrolliert, selbst entscheidet, wer Asyl bekommt, Asylbewerber möglicherweise bis zur Asylentscheidung sogar in Lagern in Nordafrika unterbringt und Unberechtigte konsequent abschiebt, ist möglicherweise ethisch dann vertretbar, wenn sie dazu führt, dass mehr Menschen in ihren Heimatländern bleiben und dort helfen, politische und wirtschaftliche Veränderungen zu erreichen, und wenn sie dazu führt, dass Europa weiter bereit und fähig ist, außerhalb Europas helfend einzugreifen.