Multiple Realisierbarkeit bei „Alles Evolution“

Drüben bei Alles Evolution hat sich Christian Schmidt die Mühe gemacht, sich mit dem Konzept der „Multiplen Realisierbarkeit“ zu beschäftigen.

Ich möchte hier kommentieren.

Grob gesagt behaupten anscheinend Geisteswisschenschaftler, weil gleiche „mentale Zustände“ durch ganz unterschiedliche physikalische Zustände (im Hirn) umgesetzt sein könnten, müsse man Wissenschaften wie die Psychologie als losgelöst von der Physik betrachten.
Damit wird quasi ein Dualismus von Körper und Geist etabliert, ohne zu behaupten, dass die Physik des Körpers nichts mit dem Geist zu tun habe.

Diese Theorie der „multiplen Realisierbarkeit“ ist meiner Meinung nach aber weniger Theorie, als wortreiche Umschreibung bzw. Umdeutung der Tatsache, dass das Gehirn einfach viel zu komplex ist, um es (heute) zu verstehen.

Das Gehirn wird natürlich bei jedem Menschen etwas anders sein, weil es durch unterschiedliche Erfahrungen geprägt wird ((und ggf. durch unterschiedliche genetische und epigenetische und hormonelle Vorkonfigurationen vorgeprägt ist)). Entsprechend werden die Synapsen etwas anders verknüpft sein, aber dennoch werden die meisten Gehirne ähnliche Fähigkeiten haben, wie z.B. Laufen, Sprechen, mathematische Aufgaben lösen. Natürlich sind diese Fähigkeiten bei jedem Menschen physikalische etwas anders realisiert, natürlich gibt es also eine „multiple Realisierbarkeit“.
So wie auch Digitaluhren und Handies mit gleicher Funktionalität im inneren teilweise unterschiedlich aufgebaut sind (aber auch große Gemeinsamkeiten haben, weil sich aus der Grob-Architektur des Systems oft „naheliegende“ Lösungen ergeben). Das bedeutet aber nicht, dass die unterschiedliche physische Realisierung die Fähigkeiten selbst bzw. die „mentalen Zustände“ unvergleichbar macht.

Denn es ist bei Menschen als soziale Wesen, die aufeinander angewiesen sind und miteinander interagieren müssen sinnvoll anzunehmen, dass die mentalen Zustände bei allen Individuen ähnlich ausfallen müssen, damit soziale Interaktion funktioniert, damit Empathie funktioniert. Wir haben für die Erkennung der mentalen Zustände anderer Personen sogar Spiegelneuronen. Die würden sich nicht ausgebildet haben, wenn es nicht möglich wäre, mehrere „unterschiedlich physikalisch realisierte“ mentale Zustände richtig als „gleich“ zu erfassen und in nützlicher Weise zu interpretieren. Es ist also davon auszugehen, dass für die sinnvolle Interpretation der mentalen Zustände die genaue physikalische Realisierung in der Praxis irrelevant ist.

Was aber dennoch nicht heißt, wie die „Theorie der multiplen Realisierbarkeit“ behauptet, dass Psychologie und Physik vollkommen unabhängig voneinander betrachtet werden müssen.
Nur ist die Wissenschaft einfach noch nicht so weit, mit den aktuellen Methoden nachvollziehen zu können, was der Prozessor eines C64 macht, oder wie ein Radio funktioniert.

Solange also die Funktion des Gehirns wegen seiner enormen Komplexität vollkommen rätselhaft bleibt, ist es müßig, festzustellen, dass die Abbildung „mentaler Zustände“ auf „physikalische Zustände“ nicht möglicht ist. Solange das Gehirn nicht bis zum letzten Neuron und Eiweiß verstanden ist, können wir niemals ausschließen, dass ein (von außen auch nur sehr grob beobachtbarer) mentaler Zustand durch eine ganze Menge von physikalischen Zuständen abgebildet wird. Aber das heißt nicht, dass es nicht irgendwann möglich wird, von den physikalischen Zuständen auf die mentalen Zustände zurückzuschließen, oder von einem mentalen Zustand auf mögliche ursächliche physikalische Zustände. In jedem Fall werden mentale Zustände immer auch von physikalischen Zuständen abhängen. Die transkranielle Hirnstimulation jedenfalls zeigt, dass man die physikalischen Zustände im Gehirn gezielt stören und ändern kann, und dass dann natürlich auch Auswirkungen auf die mentalen Zustände hat.

Ein Gedanke zu „Multiple Realisierbarkeit bei „Alles Evolution“

  1. Stadtmensch

    Hm,

    ich bin jezz zu faul, nach entsprechenden Links zu suchen, aber: Selbst die umfassendste Analyse der Hirnfunktionen hat erstaunlich wenig Erklärungspotenzial bzgl. der mentalen Vorhersagbarkeit. Viele mentalen Vorgänge hängen z.B. unmittelbar mit dem Verdauungssystem und mit der Rückkopplung zu selbigem zusammen. Dort befinden sich m.W. fast so viele Nervenverbindungen wie im Gehirn. »Bauchentscheidungen« sind also nicht so esoterisch oder irreal, wie man vielleicht vermuten würde. Von daher wäre ein isoliertes Gehirn, selbst wenn es entsprechende Techniken gäbe, alleine nicht überlebensfähig, da es zwingend auf Rückkopplungsmechanismen des übrigen Körpers angewiesen ist. Um es kurz zu sagen: Wir sind unsere Körper (all of it).

    Im übrigen danke für deine Arbeit; ich lese im Stillen immer wieder gerne deine Texte.

    So long, Stadtmensch

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