Sich-ehrlich-machen ist das neue Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen

Ist es eigentlich jemandem aufgefallen?

Wir müssen uns ehrlich machen! Es gibt ein Problem mit X.

ist couragiert, offen, transparent, mutig und gesellschaftlich erwünscht. Aber

Es gibt ein Problem mit X; das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

ist „rechts“.

Dabei ist der Unterschied in den Formulierungen minimal.

Beim „ehrlich machen“ klingt an, wie schwer es einem (als wohlmeinender Mensch) fällt, diese Wahrheit auszusprechen, weil sie einem quasi selbst unangenehm ist, weil ja nicht sein können sollte, was nicht sein dürfte.

Beim „wohl noch sagen dürfen“ hingegen wird die Sache offensiver vertreten und impliziert, dass dies ein Tabubruch sei.

Allerdings impliziert das „ehrlich machen“ auch einen Tabubruch, denn dass man sich aktiv „ehrlich machen“ muss bedeutet ja auch, einen gewissen Widerstand zu überwinden, möglicherweise nur halt eher in Form eines internalisierten Tabus als eines gesellschaftlichen Tabus.

Warum ist also „ehrlich machen“ soviel besser[tm] als „wohl nochmal sagen dürfen“?

Anscheinend ist die vermeintliche Wahrheit mit etwas Scham auszusprechen viel weniger unpassend, als die vermeintliche Wahrheit offensiv zu vertreten.
Anscheinend leben wir heute in einer Gesellschaft, in der offener Streit tabuisiert ist, wo Dissenz in sozialpädagogische Formulierungen verpackt oder durch eigene Empfindung gerechtfertigt werden muss.

Darum ist, sich in Selbstüberwindung ehrlich zu machen soviel besser und weniger rechts, als konfrontativ auf dem Recht zu beharren, seine Meinung zu äußern, und anzudeuten, dass in der Gesellschaft eine repressive Stimmung gegen abweichende Meinungen durchaus existiert.