Libyen, das Mittelmeer, Nepal und die Pflicht, zu helfen

Während wir in Europa im Wesentlichen gut leben, sterben jeden Tag auf der Welt zigtausende Menschen an Hunger, Krieg und Krankheit.

Der Helfer in uns sagt, wir sollten versuchen, diese Menschen zu retten. Darum spenden Menschen Geld für Rettungsaktionen, darum nimmt die EU Flüchtlinge auf, darum wird eine Seenotrettungsaktion auf dem Mittelmeer geplant. Der Helfer in uns will nach dem kategorischen Imperativ handeln, will moralisch richtig handeln, will so handeln, wie er sich wünschen würde behandelt zu werden, wäre er in Not.

Der Egoist in uns sagt, wir haben kein Geld, die ganze Welt zu retten. Wir wollen die Energiewende schaffen, wir wollen Inklusion in den Schulen, wir wollen eigentlich auch mehr Lehrer, Polizisten, Stellen in der Forschung, die Abschaffung von Hartz-IV, und höhere Renten. Der Egoist in uns will Brot für die Welt, aber Kuchen für Europa und Torte für Deutschland.

Beide, der Helfer und der Egoist, versuchen nun, logisch zu argumentieren, warum ihre Sicht „richtig“ ist. Ist es nicht richtig, wenn Deutschland der Welt zeigt, wie man ohne fossile Brennstoffe auskommen könnte, wäre das nicht auch gut für die dritte Welt? Ist es nicht falsch, selektiv zu helfen, jeweils denen, auf deren Elend die Medien gerade den Fokus unserer Aufmerksamkeit lenken? Ist es nicht falsch, pro gerettetem Menschenleben auf dem Mittelmeer mehrere hundert Euro für eine Rettungsmission zu zahlen, wenn man an anderer Stelle, in Nepal oder dem Niger, für mehrere hundert Euro gleich mehrere dutzend Leute retten könnte? Ist es nicht richtig, überhaupt zu helfen, irgendwo anzufangen? Ist es nicht zynisch, den „Preis“ von Menschenleben zu errechnen, und dann nur dort zu helfen, wo Helfen billig ist? Andererseits: Ist es moralisch richtig(er), solche Überlegungen nicht anzustellen, damit man dort helfen kann „wo man will“, ggf. dort, wo gerade die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist, und sich nicht rechtfertigen muss, warum man nicht an anderer Stelle mit den gleichen Mitteln mehr, andere Menschen rettet?
Wenn wir nicht helfen, machen wir uns dann mitschuldig, durch unterlassene Hilfeleistung? Und machen wir uns weniger mitschuldig, wenn diejenigen, die leiden und sterben, weiter z.B. von der EU entfernt oder nicht in den Medien sind?

Es gibt keine guten Antworten auf diese Fragen. Die Welt für alle zu einem lebenswerten Ort zu machen wird ein langer Kampf.
Es gibt keine Sofortlösungen, und wenn man eine Strategie entwickeln will, wie man langsam, Stück für Stück, mehr Länder stabilisieren und zu erfolgreichen Volkswirtschaften machen kann, wir das nicht ohne fragwürdige Entscheidungen gehen, wo und wie man helfen will.
Denn wenn man nicht allen sofort helfen kann, dann ist jede Entscheidung, irgendwo zu helfen, auch eine Entscheidung dafür, irgendwo nicht zu helfen, und damit eine unmoralische Leben-und-Tod-Entscheidung im Stil eines römischen Imperators.

Zudem wohnt in jedem von uns ein Helfer – und ein Egoist. Natürlich wollen wir helfen, die Probleme der dritten Welt zu lösen, aber unsere „First-World-Problems“ sollen auch gelöst werden.

Und so kommt es auch, dass auch Journalisten und Politiker sich sowohl über deutsche Luxusprobleme als auch über das Elend in der Welt aufregen können, ohne den Widerspruch zu realisieren, den es bedeutet, wenn man jede Menge Geld zum Beispiel in Fischtreppen, Denkmalschutz oder Resozialisierung von Intensivstraftätern investieren will, obwohl das im Endeffekt heißt, dass das Geld für diese Dinge nicht verwendet werden kann, um an anderer Stelle Menschenleben zu retten. Das heißt: Alte Steine und Fische sind uns, also auch so Berufs-Betroffenheits-PolitikerInnen jeder coleur, mitunter wichtiger als Menschenleben, und darum ist es im Endeffekt ziemlich absurd, jetzt so zu tun, als ob von der Rettung von Menschen im Mittelmeer oder in Nepal unsere moralische Integrität und die Glaubwürdigkeit von Europa als Hort der Menschenrecht abhinge.
Denn wenn man einmal ein paar Minuten darüber nachdenkt müsste ja jedem klar werden, dass das mittelfristig unlösbare Problem der ungerechten Ressourcenverteilung auf der Welt ein Dilemma darstellt, welches unter jedem Aspekt „moralisches Handeln“ überhaupt nicht zulässt.