Halbwahrheiten bei Twitter oder: Hilfe, schwules Blut!!11!!!!1!

Es gibt so Tweets die hin und wieder in der Twitter-Timeline erscheinen, die einfach nicht totzukriegen sind. Einer davon ist derjenige der sagt, dass Schwule ((und Bisexuelle, also „MSM“)) kein Blut spenden dürften, und dass das ein Skandal sei, und Diskriminierung. Wobei sich die Frage stellt, wie diskriminierend es überhaupt sein kann, kein Blut spenden zu dürfen, zumal mir ein „Recht auf Blutspende“ generell nicht bekannt ist. ((Oder ein Recht auf Samenspende. Oder generell eine Pflicht von irgendwem, irgendetwas anzunehmen, nur weil man es ihm kostenlos geben will))

In diesen Tweets wird stets der Eindruck erweckt, als sei der Ausschluss von MSM von der Blutspende eine homophob motivierte Ungerechtigkeit, und es wird der polemische Vorwurf erhoben, die Gegner der Blutspende durch Schwule hätten wohl Angst vor einer Infektion mit Homosexualität.

So… unglaublich ironisch-sarkastisch-lustig diese Variante der „Strohmann-Argumentation“ scheinbar auch sein mag – es geht bei der (Nicht-)Zulassung von Blutspendern um das durchaus und buchstäblich Tod-ernste Thema der Minimierung des Risikos für eine Infektion mit tödlichen Krankheiten durch verseuchte Blutprodukte. Insofern ist es möglicherweise angebracht kurz nachzudenken, bevor man sich dem vorgeblich hehren Kampf für das „Blutspenden-Recht für Schwule“ anschließt.

Ich habe darum mal recherchiert.

Also: Laut dem epidemiologischen Bulleting zum Thema HIV des Robert Koch Instituts von 2013 gab es in Deutschland Ende 2012 ca. 78.000 HIV Infizierte. Davon sind 15.000 Frauen und 63.000 Männer, 51.000 davon „Männer, die Sex mit Männern haben“ (im Wissenschafts-Jargon kurz MSM), bleiben 12.000 sonstige Männer. Es sind also ca. 80% aller HIV-Infizierten Männer in Deutschland und ca. 2/3 aller HIV-Infizierten in Deutschland überhaupt Männer, die Analsex praktizieren.

Jetzt lässt sich rechnerisch zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nicht-MSM HIV-infiziert ist, wesentlich geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass ein MSM HIV-infiziert ist.

Ich will das ganz kurz grob überschlagen: Schätzen wir großzügig dass 15% aller Männer MSM seien, bei ca. 80 Mio. Deutschen wären 15% von ca. 40 Mio. Männern, also 6 Mio. Männer.
Die HIV-Quote unter diesen wäre dann 51.000 / 6 Mio. = 0.85%. Unter den restlichen 74 Mio. Menschen wäre die Quote aber nur 27.000 (15.000 Frauen + 12.000 „sonstige Männer“) / 74 Mio. = 0.0365%, also ca. 23 mal geringer. Manche Studien errechnen auch den Faktor 18; wie auch immer, die Wahrscheinlichkeit dass ein MSM HIV-positiv ist ist ca. 20 mal größer als die dass ein Nicht-MSM HIV-positiv ist. Man redet hier auch von einer 20-mal höheren Prävalenz von HIV bei MSM.

Aber warum könnte das ein Grund sein MSM (und nicht etwa nur „Schwule“, wie auf Twitter suggeriert, siehe auch z.B. den Fragebogen des Blutspendedienstes Hamburg oder den Fragebogen des DRK ) von Blutspenden auszuschließen, wo doch alle Blutspenden mit aufwendigen PCR-Tests auf HIV getestet werden, die sehr sehr zuverlässig sind?

Dafür gibt es wahrscheinlich zwei Gründe:

  1. Die sogenannte „diagnostische Lücke“; diese besteht darin dass ein HIV-Test erst ein paar Wochen nach einer HIV-Infektion anschlägt weil eine bestimmte Viruslast bzw. eine bestimmte Menge von HIV-Antikörpern Voraussetzung für die Funktion dieser Tests ist. Es besteht also die (sehr geringe) Gefahr, dass negativ getestetes Blut doch HIV-positiv ist und infektiös sein kann.
  2. Die Gefahr von HIV-Mutationen, die durch den aktuellen HIV-Antikörper-Test nicht erkannt werden. So eine Mutation soll in der Vergangenheit bereits einmal aufgetreten sein. Ich konnte dazu allerdings bisher keine glaubhafte Quelle finden. Aufgrund der Tatsache dass es verschiedenste Subtypen von HIV-1 und HIV-2 gibt erscheint es aber denkbar dass diese Gefahr existiert, und da ca. 2/3 aller HIV-infizierten MSM sind erscheint es auch denkbar, dass die Gefahr des Entstehens so einer Mutation in dieser Gruppe von HIV-Infizierten besonders hoch sein könnte.

Nun ist die Gefahr für eine HIV-Infektion durch eine Blutspende aufgrund der HIV-Antikörper-Tests und aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer neuen HIV-Variante generell extrem gering und wurde 1995 auf 1:1.000.000 geschätzt.

Dennoch wäre das HIV-Infektions-Restrisiko durch falsch negative Tests bei Blut von MSM ca. 20 mal höher als bei Blut von Nicht-MSM.

Dieses Risiko erscheint Medizin und Politik im Verhältnis zur möglichen Erhöhung der Zahl der Blutspender anscheinend als zu hoch. Welcher Politiker würde sich im Falle einer HIV-Infektion durch Blutprodukte schon gern fragen lassen, warum er für eine Ausweitung der Gruppe der möglichen Blutspender um vielleicht 10% eine Erhöhung des Restrisikos um fast 300% ((Wenn 90% der Blutspender keine MSM sind, und 10% MSM mit einem 20-fach erhöhten Risiko, dann ist das Gesamtrisiko im Vergleich zur Gruppe ohne MSM statistisch gesehen um den Faktor (0.9 + 0.1 x 20) = 2,9 erhöht. )) okay fand? Und darum werden MSM als Risikogruppe von Blutspenden ebenso ausgeschlossen, wie Menschen, die vor kurzem im Ausland Sex hatten oder die häufig wechselnde Sexualpartner haben. Weil das Risiko einer Infektion von Blutprodukte-Empfängern soweit wie möglich minimiert werden soll – und das finde ich richtig!

Man muss diese Entscheidung auch vor dem historischen Kontext der Infektion von Blutern durch kontaminierte Blutprodukte sehen, die in Deutschland ein großer Skandal war, und mit Grund war, Risikogruppen von der Blutspende auszuschließen.

Es gibt also sachliche Gründe für den Ausschluss von MSM von der Blutspende. Eine obskure homophobe Nazi-Verschwörung, wie auf Twitter so gern propagiert, gibt es nicht. Sogar die AIDS-Hilfe glaubt, dass der Ausschluss von MSM okay ist.

Ergänzungen:

Ich habe die Frage auf Twitter auch schon öfter diskutiert, dabei wurde die Frage aufgeworfen warum es nicht reicht wenn man die Frage nach häufig wechselnden Sexualpartnern stellt; um die Gefahr durch die diagnostische Lücke auszuschließen müsste es ja auch bei MSM reichen wenn sichergestellt wäre das dieser in den letzten Wochen keinen Sex oder nur Sex mit einem treuen Partner gehabt hat, weil man ja auch bei Heterosexuellen ungeschützten Sex mit einem festen Partner tolieriert.

Anscheinend – sonst müsste man hier ggf. tatsächlich eine Diskriminierung konstatieren – möchte man sich bei MSM nicht auf die Angaben zur Treue des Partners bzw. den anderen Sexualpartnern der jeweiligen Sexualpartner verlassen („hatten sie Sex mit jemandem, der häufig wechselnde Sexualpartner hat“).
Da die Fremdgeherquote unter Männern unabhängig von der sexuellen Orientierung eher hoch zu sein scheint (40-50%, laut Studien) bedeutet das, dass bei MSM die Gefahr einer HIV-Infektion über einen untreuen festen Sexualpartner im Vergleich mit Nicht-MSM um den Prävalenz-Unterschied (ca. Faktor 20) erhöht ist. Dazu kommt dann noch der Unterschied bezüglich der Infektionswahrscheinlichkeit, der bei Analverkehr im Vergleich mit anderem Verkehr erhöht ist.
Die erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit aufgrund der Art des Verkehrs (Faktor 10), in Kombination mit der erhöhten Prävalenz von HIV bei MSM (Faktor 20), resultiert bei MSM also in einer (bei passivem Analsex) bis zu 200 mal höheren Infektionswahrscheinlichkeit bei ungeschütztem Sex mit einem untreuen Partner, im Vergleich mit Sex zwischen Nicht-MSM.
Ich weiß, das wollten einige Leute jetzt nicht lesen, weil das auch die Argumentation des LSVD für die Ersetzung der Frage nach MSM durch eine Frage nach „Personen, die ungeschützten Sexualverkehr mit wechselnden Personen“ haben aushebelt. Weil MSM eben — wie gerade vorgerechnet und erläutert — ein höheres Risiko darstellen, wenn sie ungeschützen Sexualverkehr mit einem festen, aber vielleicht untreuen Partner haben, als Heterosexuelle oder Lesben, die ungeschützen Sexualverkehr mit einem festen, aber vielleicht untreuen Partner haben.

Dieser Umstand könnte der Grund sein warum die „Sind sie MSM?“-Frage in den Blutspende-Fragebögen nicht einfach weggelassen und komplett durch die „Haben sie Sex mit häufig wechselnden Sexualpartnern“ / „Haben sie Sex mit jemandem, der häufig wechselnde Sexualpartner hat“-Fragen ersetzt wird, oder durch eine Frage „Haben sie ungeschützten Sex?“, die dann zuviele tendenziell eher ungefährliche monogame Heterosexuelle ausschließen würde.

Das Paul-Ehrlich-Institut hat auf seiner Webseite hier und hier Informationen zum Thema. Hier ist auch von einem 100-fach erhöhten HIV-Restrisiko bei Blutspenden durch MSM die Rede.

Die Antwort auf die Frage, warum MSM kein Blut spenden sollen, lautet also nicht: „Böse Politiker wollen nicht, dass Schwule Blut spenden“. Sondern eher: Politiker oder Gesundheitsexperten oder Betreiber von Blutbanken wollen aus politischen, wissenschaftlichen oder ökonomischen Gründen nicht verantworten, Blutspender zuzulassen, die ein 20-fach oder noch stärker erhöhtes Infektions- Restrisiko darstellen könnten für den Fall, dass Tests falsch negativ sind.

Jetzt gibt es natürlich rechtschaffene Menschen, die seit Jahren monogam leben, die sich als MSM trotz aller statistischen Gründe irgendwie als Individuum diskriminiert fühlen. Weil es ja irgendwie gemein ist, dass die Blutspendedienste nach statistischen Wahrscheinlichkeiten gehen und nicht einfach glauben, dass sie garantiert monogam und treu sind und daher kein erhöhtes Risiko darstellen.

Dann aber sind wir aber bei einer Diskussion darüber, ob es überhaupt zulässig sein sollte, Menschen nach bestimmten Eigenschaften zu kategorisieren, oder ob das allein schon diskriminierend ist.

Ob es z.B. diskriminierend ist, dass junge Männer höhere Beiträge zur KFZ-Versicherung und ältere Männer höhere Beiträge zur privaten Krankenversicherung zahlen.
Oder ob es diskriminierend ist, wenn Stellen bevorzugt mit Frauen besetzt werden.
Oder ob es vielleicht doch nicht diskriminierend ist, wenn man Menschengruppen von der Blutspende ausschließt, die man für stärker Risiko-behaftet hält.

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