Die Piratenpartei die ich meine

Für mich war die Piratenpartei die Partei, die evidenz-basierte Politik machen wollte. Die Partei mit den Kernthemen Datenschutz und digitale Freiheit.

Leider ist sie im Moment nicht in der besten Verfassung, und das hat IMHO folgende Gründe:

  1. „Themen statt Köpfe“ funktioniert nicht. Die Medien berichten über Köpfe, denn die Leute merken sich Köpfe tausend mal besser als Themen. Über Themen kann man keine Home-Stories schreiben, sie tragen keine Sandalen oder Kleider und man kann sie nicht als möglicherweise faule Beamte, irre Faulenzer oder durch eine Jugend in der Nähe vom Tschernobyl geschädigte Ladies darstellen. Alle die jetzt wissen auf wen ich anspiele sollten realisieren: Köpfe sind der Schlüssel zur Aufmerksamkeit. Themen sind zwar das eigentlich wichtige, aber die Menschen merken sich nur Köpfe. Darum bauen die „Altparteien“ gezielt Köpfe als „Experten für irgendwas“ auf; wer kennt z.B. den Gesundheitsexperten der SPD mit der Fliege nicht? Und wer kennt das SPD-Programm zur Gesundheitspolitik? Na? Also! Wenn wir evidenzbasierte Politik machen wollen müssen wir auch in Bezug auf die Art und Weise wie Politik funktioniert die Faktenlage anerkennen: Themen gehen nur mit Köpfen. Und Köpfe, man sieht es an Angela Merkels Popularität, gehen notfalls auch ohne Themen. Das Dogma „Themen statt Köpfe“ gehört sofort durch „Themen und Köpfe“ ersetzt.
  2. Basisdemokratie funktioniert nicht. Zumindest früher waren doch viele Piraten aus der IT. ITlern müsste doch einleuchten dass „divide & conquer“ bzw. Parallelsierung ein besserer Algorithmus ist als single-threaded alles linear durchzuarbeiten wie bei einem basisdemokratischen Bundesparteitag. Und darum müsste es auch einleuchten warum eine hierarchische parallele Struktur von Parteitagen wo Beschlüsse erst auf Bezirksebene, dann auf Landesebene und dann auf Bundesebene beschlossen werden bis sie Beschlusslage werden effizienter ist als eine Struktur wo jeder auf dem Bundesparteitag ohne nennenswerte Vorbereitung beliebige Anträge stellen kann. Denn bei der mehrstufigen Hierarchie werden die dämlichsten Anträge schon auf der Bezirksebene rausgefiltert und die guten Anträge schon auf Landesebene einigermaßen perfektioniert; auf dem Bundesparteitag bleibt dann Zeit für Finetuning; zumindest machen sich andere Parteien nicht lächerlich indem sie auf einem Bundesparteitag dreimal über den gleichen Antrag abstimmen und ihn dann wegen einer Formulierung ablehnen.
    Wenn wir die Partei sind die evidenzbasierte Politik macht, dann sollten wir nicht unsere Augen verschließen vor der Ineffizienz der Basisdemokratie und vor der Überlegenheit mehrstufiger parallelisierter Verfahren. Auch internetbasiertes Abstimmen beseitigt übrigens nicht das Problem mangelnder Parallelisierung. Auch im LQFB gibt es nur eine Ebene auf der zu viele Anträge auf einmal eingestellt werden als dass sie der durchschnittliche Basispirat alle angucken könnte, so dass nur noch Anträge Beachtung finden die von irgendwelchen „Elitepiraten“ per Twitter etc. gepusht werden. Und das bringt mich zum nächsten Punkt:
  3. Das Delegiertensystem ist nicht böse, sondern es führt dazu dass die wirklich Engagierten zu Delegierten bestimmt werden. Wir lügen uns in die eigene Tasche wenn wir glauben dass es bei uns Piraten im Moment anders liefe als bei anderen Parteien: Unsere „Funktionäre“ heißen zwar nicht so, aber es sind genau wie bei anderen Parteien diejenigen die am meisten von ihrer Lebenszeit in die Partei stecken. Auch bei uns gibt es eine Elite der Gewählten und der Bekannten die die Multiplikatoren und Meinungsführer sind. Wir haben zwar kein Delegiertensystem, aber dennoch haben wir nur ca. 5% hochaktiver Mitglieder, man sieht es im LQFB und bei den Stammtischen. Diese hochaktiven Mitglieder wären in einem Delegiertensytem die Delegierten und würden den Kurs der Partei genau so bestimmen wie sie es jetzt bereits tun. Die Ablehnung des Delegiertensytems entspringt dem nachvollziehbaren Wunsch nach „sozialer Durchlässigkeit“ der Parteistrukturen. Sie entspricht auch dem Unbehagen gegen das „Hochdienen“ in einer Parteihierarchie und dem Unbehagen gegen das Gefühl als Basismitglied weitgehend ohne Einfluss zu sein. Aber gegen die soziale Durchlässigkeit spricht auch der Wunsch der Parteibasis dass Führungspersönlichkeiten sich verlässlich für die Werte der Partei einsetzen sollen. Die Basis will – Köpfe statt Themen – die Menschen an der Spitze kennen und ihnen vertrauen können. Die Basis will die Schlömer-vs-Ponader-Show nicht noch einmal erleben, aber viele wollen sich auch die Illusion erhalten sei könnten – wenn sie sich die Zeit nähmen ein paar Emails zu schreiben – schon beim nächsten BPT der nächste Schlömer oder Ponader werden. Ich schreibe Illusion weil das natürlich keine realistische Vorstellung ist. Man wird in der realen Welt nicht einmal Kreisvorsitzender ohne sich lange und viel darauf vorzubereiten, mit Menschen zu reden und für sich selbst Werbung zu machen.Die Piratenpartei befindet sich meiner Meinung nach in dem schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens in Zuge dessen man realisieren muss dass man im Leben nicht alles haben kann. Wenn wir als Partei erfolgreich sein wollen müssen wir uns von dem unrealistischen Wunsch verabschieden die Quadratur des Kreises der innerparteilichen Demokratie zu lösen. Akzeptieren wir doch die Lehren der Geschichte, dass nämlich Organsiationen die irgendetwas auf die Beine stellen wollen Hierarchien brauchen. In seltenen Fällen können basisdemokratische Vereinigungen irgendwelche Dinge durch Massenproteste (zeitweise) verhindern oder sogar Regime stürzen, aber konstruktiv etwas aufzubauen gelingt nur mit einer Hierarchie. Oder hat irgendwer nach der Wende in der DDR wieder etwas vom „Neuen Forum“ gehört, dessen heutiges inhaltliches Profil übrigens ungefähr genau so lautet wie die „progressiven Linken“ bei den Piraten die Piraten haben wollen?
  4. Wahlcomputer funktionieren nicht. Und mit LQFB sind manche Piraten im Begriff die Historie der Parteiendemokratie um einen weiteren Kardinalfehler zu bereichern. Ich weiß wirklich nicht warum vordergründig doch recht intelligente Menschen nicht einsehen wollen dass Wahlen per Computer entweder „nicht frei und geheim“ oder manipulierbar sind. Je mehr Aufwand getrieben wird um die Manipulierbarkeit zu verringern, desto größer wird sie paradoxerweise. Denn ohne die Analyse der „ultimativ sicheren Wahl-Blackbox“ und des „ultimativ sicheren asymmetrischen Verschlüsselungsverfahrens“ kann niemand garantieren dass nicht irgendjemand Kluges eine Möglichkeit gefunden hat bestimmte Eigenschaften auszunutzen um nur bestimmte Stimmen zu zählen oder ein Ergebnis einzuschleusen.
    Das analoge „Zettel, Stift, Urne“-Verfahren hingegen ist so einfach dass es jeder versteht. Es versteht sogar jeder die möglichen Schwachstellen, z.B. eine Verschwörung der Wahlkommission, oder die Ermittlung von Wählern über Fingerabdrücke oder DNS-Spuren. Und darum können diese Schwachstellen abgestellt werden, z.B. durch einen Wahlproporz durch den immer Leute aus entgegengesetzten Lagern und aus unterschiedlichen Gegenden in die Wahlkommission gewählt werden (Viele-Augen-Prinzip), und durch die Vernichtung der Stimmzettel nach der Wahl.
    Es gibt auch über die Geschäftsordnung die Möglichkeit eine namentliche Abstimmung zu fordern oder den Hammelsprung.
    Und darum ist das old-school-Verfahren Papierabstimmung den technokratischen Träumen von Online-Abstimmungen mit tausend Lagen Krypto-Foo die niemand versteht und die effektiv auf ein Keine-Augen-Prinzip herauslaufen jetzt und für absehbare Zeit weit weit überlegen.
    Dezentrale Abstimmungen sind natürlich auch super. Darum wäre ich auch für einen verteilten Bundesparteitag. Und zusätzlich für diese verteilten anderen Parteitage, die bei anderen Parteien Bezirks- und Landesparteitage heißen und hierarchisch aufeinander aufbauen.
  5. Vollprogramm funktioniert nicht (für uns, jetzt).
    Die Piratenpartei hat den Fehler gemacht sich einreden zu lassen ein Vollprogramm zu brauchen. Aber wir können nicht in wenigen Jahren (ohne beständige Parteistrukturen) aufholen was andere Parteien in Jahrzehnten an Programmatik aufgebaut haben. Andere Parteien deren Programme auch stetig in einem Wandel sind und der Zeit oftmals hinterherhinken.
    Natürlich war es nicht sehr souverän dass unsere Vertreter im Fernsehen allzu oft sagen mussten dass die Piraten zu irgendeiner Frage noch keine Position haben. Aber das ist kein Grund sich von den anderen Parteien vor sich hertreiben zu lassen. Wie aktuell sind denn die Programme der Mitbewerber? Und wie oft werden Programme nur für die Wahlwerbung geschrieben und dann überhaupt nicht umgesetzt? Das wären die Punkte gewesen die unsere Vertreter hätten ansprechen sollen. Ich finde wir sollten uns auf die Position stellen dass wir bei den Punkten wo wir kein eigenes Programm haben einfach dem Vorschlag der anderen Parteien zustimmen werden der am ehesten zu unserer Linie passt bzw. den unsere Abgeordneten am ehesten mit ihrem Gewissen vereinbaren können. In einem Land das eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt hat brauchen wir jetzt nicht wirklich die Notwendigkeit für „yet another wirtschaftspolitisches Programm“ zu konstatieren. Es wäre kein Schaden und kein Indiz für Ahnungslosigkeit wenn wir im Zweifel den Vorschlägen irgendeiner anderen Partei zustimmen würden. Ich dachte das wäre eine der Grundideen der Piraten: Nicht immer parteipolitisches Gegeneinander, sondern auch mal echte Auseinadersetzung mit den Themen, auch mal Kooperation mit anderen Parteien? Diese Idee hätte man anführen können um Vorwürfen von Konzeptlosigkeit und „zu wenig Programm“ entgehen zu wirken, aber das haben wir in den Sand gesetzt. Bisher.
    Mit dem Anspruch auf ein Vollprogramm kommt auch der unrealistische Anspruch überall kompetent zu sein, damit die Notwendigkeit dass einzelne Leute sich spezialisieren müssen, damit die Notwendigkeit dass manche Leute gar nicht mehr wissen worum es bei einem anderen Thema geht, und damit wiederum die Notwendigkeit eine Art „Fraktionszwang“ einzuführen damit „die Partei“ in der öffentlichen Wahrnehmung irgendeine klare Linie verfolgt.
    Wir sind – auf absehbare Zeit – eine Spartenpartei. Die Idee eines Vollprogramms hat uns außer erbitterten Grabenkämpfen um BGE und Feminismus, Waffen und Atomkraft, Gentechnik etc. nichts gebracht. Die Aufmerksamkeit für unsere Grabenkämpfe und parteiinterne Scherze wie „Ponytime“ oder „Zeitreisen“ hat die Aufmerksamkeit von unseren Kernthemen abgelenkt und viele Leute die nicht in unserer Gedankenwelt leben, aber uns hätten wählen können, verstört.
    Unsere innere Geschlossenheit und Schlagkraft hat durch die innere Spaltung in irgendwelche Lager mit irgendwelchen spezifischen Positionen zu allen möglichen Rand-Themen abgenommen. Unsere Glaubwürdigkeit als „neue politische Kraft“ ist geschädigt worden durch den Anspruch ebenso wie alle anderen Parteien zu jedem Thema alles zu wissen. Und mangels starker Parteistrukturen war auch niemand da der die fruchtlosen Debatten über Themen die nicht unsere Kernthemen sind hätte unterbinden können.
    Doch diese starken Strukturen hätten wir gebraucht. Die Leute wollen digitale Freiheit und Bürgerrechte und ein neues Urheberrecht und das Recht auf Mash-Ups und keine Überwachung, und sie hätten uns gewählt.
    Wenn sie jetzt mittlerweile nicht unsicher wären ob sie nicht mit diesen Themen auch das BGE wählen oder Frauenquoten oder die Drogenfreigabe oder Gesamtschulen oder sonstwas was wir Piraten angeblich intern diskutieren. Mit jedem Thema das wir auf unsere Agenda setzen riskieren wir Menschen abzuschrecken. Darum ist es notwendig die öffentliche Wahrnehmung gezielt auf die Themen zu lenken die man für Gewinnerthemen und Alleinstellungsmerkmale hält und die anderen Themen parteiintern und unter der Decke zu halten. Das bringt mich zum letzten Punkt:
  6. Transparenz funktioniert nur eingeschränkt.
    Es gibt dieses Hacker-Motto. Es lautet nicht „Jeder muss alles wissen“. Es lautet: „Öffentliche Daten öffentlich machen, private Daten schützen“. Und politische Diskussionen innerhalb einer politischen Partei sind nicht komplett öffentlich. Sie gehen nur die Parteiöffentlichkeit etwas an. Parteiöffentlichkeit braucht einen gewissen Schutzraum damit Themen offen diskutiert werden und nicht jeder primär damit beschäftigt ist seine Formulierungen so unangreifbar zu machen dass auch der bösartigste Journalist ihm daraus keinen Strick drehen könnte. Man stelle sich mal eine Diskussion über die Haltung der Piratenpartei zum Thema Sterbehilfe, Israelpolitik oder Pädophilie im Internet vor die live bei Phoenix übertragen würde. Die Zahl der Redner würde sich wahrscheinlich arg in Grenzen halten. Wer würde schon riskieren sich durch eine einzige unbedachte Äußerung als politischen Menschen für alle Zeit zu vernichten? Wenn Menschen in einem Prozess der Meinungsfindung in innerparteilichen Debatten keinen geschützten Raum vor-, sondern sich in einem Panoptikum wieder-finden dass sich jederzeit in einen Internet-Pranger verwandeln kann kann keine politische Debatte stattfinden. Niemand von uns ist ohne Irrungen und Wirrungen zu seinen eigenen Ansichten gekommen. Darum darf „Transparenz“ nicht bedeuten dass die Piraten ihr innerstes nach außen kehren und alles aufzeichnen und veröffentlichen. Erst auf einem bestimmten Level wo die Akteure soweit professionelle Politiker mit öffentlicher Bedeutung sind dass die Sphäre des Privaten verlassen wird dürfen Transparenzüberlegungen relevant werden. Das private aber muss privat bleiben.